Texte zur Kunst
Inter-venieren,
Ver-rücken,
In-Frage-stellen
Gedanken zu den künstlerischen Real-Fragmenten von Florian Münchow
„Mit anderen Worten: das Fragment funktioniert hier als pars pro toto: Je nachdem, ob das Ganze als verloren oder noch nicht erreicht gedacht wird, erscheint es, unter archäologischer Perspektive, als Rest, Abfall, Schlacke, Krümel, Spur, Ruine, Memoran dum oder, unter eschatologischer Perspektive, als Sprungbrett für die Phantasie, als Keim der Zukunft.“
Lucien Dällenbach/Christiaan L.Hart Nibbrig
„Wir schießen alle aus der Hüfte, und etwas ausrichten heißt in der Kunst etwas hinrichten, zuerst sich selber.“
Heiner Müller
Die künstlerischen Methoden von Florian Münchow tragen bereits den Keim der späterhin erscheinenden Objekte, Skulpturen, Installationen und Bilder (Zeichnungen, Collagen, Fotos) in sich: die sogenannte „Wirklichkeit“ mit ihren als scheinbar unverrückbar vorgegebenen Ordnungen, Regeln, Systemen, Strukturen und Prozessen werden in An-Sicht und Hin-Blick auf ihre Funktionalitäts- und Nützlichkeits-Ansprüche durch die Möglichkeit einer anderen, ästhetischen und negativ-ästhetischen, künstlerischen Wahrnehmung in-Frage-gestellt und ver-rückt, auch die der eigenen Wahrnehmung. Diese zunächst analytischdekonstruktive Handlungsweise versetzt, zersetzt und durchlöchert die uns als Einheit und Ganzes erscheinenden Gebilde und Formen des Gewohnten und Alltäglichen im Hinblick auf eine Suche nach den uns ebenso real erscheinenden Fragmenten, Rissen, Lücken, Hohlräumen und Öffnungen als einem gespannten (Hoffnungs-)Seil über den Abgründen einer in sich selbst brüchigen und fragilen Realität. Das Ausloten der Möglichkeiten einer, wie auch immer gearteten, ganz anders wahr-zu-nehmenden und zu durch-denkenden Wirklichkeit wird so auch zu einem sozial-psychologisch- dialektischen Experiment zwischen dem Aushalten des eigenen So-Seins (ich und ICH) und der Wahrnehmungs- und In-Frage-Stellungs-Bereitschaft der Betrachter (wir und WIR), die zur aktiven Mittäterschaft am Entstehungsprozess einer neuen, sinnlichen Bewusstwerdung provoziert werden sollen. Diese Denk- und Gestaltungsweise kann sich auf künstlerische, kunsthistorische, kunstwissenschaftlich und philosophisch-ästhetisch bedeutende Überlegungen und Vor-Bilder und Gedanken mit Recht berufen: u. a. Marcel Duchamp, Sergej Tretjakov,Max Ernst.
Mit seiner Überführung des Alltagsgegenstandes in die Sphäre der Kunst stellte Marcel Duchamp zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Bedeutung des Raumes, in dem ein Gegenstand (Objekt) mit dem Label „Kunst“ bedacht, bezeichnet und belastet, überhaupt in Erscheinung tritt. Duchamps revolutionärer Akt bestand zum einen darin, das Museum als Bollwerk einer elitären Kunstauffassung zu sprengen. Zum anderen verlieh er dem industriell gefertigten Objekt – im vorliegenden bei Florian Münchow sind es u.a. Feuerlöscher, Kunststoffabfalleimer, Rollläden, Pappkartons – durch Platzierung in den Kontext der sanktionierten „Hochkultur“ (zwischen Galerie und Museum) den entsprechenden Rahmen, der das scheinbar gewöhnliche Ding zum Kunstgegenstand erhob und somit der ästhetischen Betrachtung freigab.Und diese Aufhebung gängiger Wahrnehmungsmuster und folgender Bewertungskriterien führten in der künstlerischen Praxis zu nachhaltigen Veränderungen bis in die aktuelle Gegenwart: der auswählende Blick löste den handwerklich-schöpferischen Prozess ab, der Kontext bestimmte zusehends die Botschaft und Interpretation des künstlerischen Objekts,das greifbare, scheinbar beiläufige und vorgefertigte Industrieprodukt (auch als gestalterisches Zusammenspiel beteiligter Erfinder, Ingenieure, Designer und werbenden Kommunikatoren und Propagandisten) wurde schließlich vom immateriellen Massenprodukt der Medien abgelöst – und vom medial reproduziertem Abbild des Menschen. Somit wurde und ist die Kunst ein Bestandteil von sozialen Ereignissen als Arbeitsbündnis, das die Handlungen, Haltungen und Vorkenntnisse aller am Prozess Beteiligten befragt. „Die Steine auf Straße und Marktplatz hochheben und nachschauen, was wirklich darunter ist, um Muster zu erkennen oder Zeichen der Auslöschung“ (Florian Münchow), die selbst wiederum Chroniken, Geschichte und Geschichten des gesellschaftlichen Zusammenhanges sind. Und hier erscheinen auch die Auflösungen, Löcher, Hohlräume, Spuren und Zersetzungen auf dem Boden (Grund, Fläche), der Wand (Rahmen) und dem vorgefertigtem Objekt als Möglichkeit ins Offene der gestalterischen Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes Menschen, erinnert und gemahnt an Joseph Beuys´ These „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und im Rückgriff auf den Beginn der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den revolutionären Geist des sowjetischen Denkers und Künstlers Sergej Tretjakov: „Die Biografie des Dings hat ein ganz außerordentliches Aufnahmevermögen für die Einbeziehung des menschlichen Materials.“ Damit wird auch das vorgeblich „Inkommensurable“ zur künstlerisch forschenden Herausforderung an sich selbst, den Betrachter und die historischen, politischen, sozialen und kulturellen Evidenzen: „Das Inkommensurable ist die Grenze dieser Evidenzzone, die ich den Tatsachenraum nenne und die man gewöhnlich als Realität adressiert. Zu dieser Zone gehört das Phantasma ihrer Stabilität und Geordnetheit… Realität ist bereits Resistenz gegenüber dem, was man das Irreale nennt; jenes Irreale freilich, das
Lacan das Reale nennt: den „Inkommensurabilitätswert der Realität“ (Marcus Steinweg). Ganz so, wie einst der Sur-Realist Max Ernst es auf einem kleinen Bildwerk provokant-poetisch formulierte: „Man muss die Welt nicht so sehen, wie ich bin“. Der konstruktive Konflikt zwischen herkömmlicher Vorstellung und Ordnung ist damit als künstlerische Methode vorprogrammiert: „Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts“, schrieb Heiner Müller und könnte damit Pate gestanden haben für die künstlerischen und politischen Interventionen im öffentlichen Raum durch Florian Münchow. Zudem erweitert der Künstler den dialektischen und universellen Zusammenhang von „Totalität und Fragment“ durch handwerklich-präzise und formal-ästhetisch schöne „Ergänzungen“ der zuvor destruierten Gebilde als Irritation, die dann in der künstlerisch-fotografischen Präsentationsform die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit in der Wahrnehmung von „Realität“ durch Verdoppelung nochmalig steigern. Mit dem französischen Soziologen und politischen Philosophen Henri Lefebvre aus seiner „Einführung in die Modernität“ lässt sich dann feststellen: „Die Kluft erweitert sich, so gibt es zwar Raum für Erfindung und Kreation, also für Freiheit, aber auch nicht minder – für Zweifel und Unsicherheit“. Der Künstler (und Kunsthochschul-Lehrer Florian Münchows) Michael Dörner, benannte dies (Projekt, Ausstellung und Katalog) als ein künstlerischen Handeln „…zwischen Risiko und Einrichtung…“, das eine spezifisch experimentier- und risikofreudige Haltung voraussetzt, die, wie hier vorliegend in den Arbeiten von Florian Münchow, “Dinge und Prozesse“ loslösen und loslassen kann und die Begriffe von Kunst und Kunstwerk selbst zur zu befragenden Disposition stellt: „… die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit der Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen; beide Momente hat das Fragment.“ Im Sinne dieser Reflexion von Theodor W. Adorno aus seiner „Ästhetische(n) Theorie“ sind die Inter-ventionen, Ver-rückungen und In-Frage-stellungen mit den Mitteln der Zer-Setzung und Durch-Löcherung ein konstruktiver Akt zur Schaffung von Öffnungen in einen neu zu entwickelnden, freien Raum der Hoffnung auf Veränderung.
Gunnar F. Gerlach